Das überwiegend öffentliche Interesse im Rahmen der artenschutzrechtlichen Ausnahme

Frage

Wann liegt im Zusammenhang mit Windenergieplanungen ein „überwiegend öffentliches Interesse“ vor?

Vollständige Antwort

Ein Überwiegen des „öffentlichen Interesses“ ist eine der Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, wenn für eine Windenergieanlage eine artenschutzrechtliche Ausnahme erteilt werden soll (§ 45 Abs. 7 Nr. 5 BNatSchG).

Das „überwiegende öffentliche Interesse“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Konkretisierung jeweils bei der Erteilung oder Ablehnung der Ausnahme durch die Behörde oder in gerichtlichen Entscheidungen im Einzelfall erfolgt. Allgemeingültige Kriterien, wann ein öffentliches Interesse vorliegt und wann nicht, gibt es nicht.

Grundsätzlich kann auch die Vorhabenrealisierung von privaten Unternehmern, wie es in der Windbranche verbreitet ist, im öffentlichen Interesse liegen, solange hierdurch auch altruistische Ziele verwirklicht werden (Stöckel und Müller Walter in: Erbs und Kohlhaas (2018): § 45 Rn. 23–29). Die Versorgung der Bevölkerung mit erneuerbaren Energien ist ein solches altruistisches Ziel.

In annährend allen Windenergieerlassen der Länder finden sich im Zusammenhang mit der Ausnahmeregelung Versuche, das öffentliche Interesse zu konkretisieren. In den fraglichen Fällen wird das öffentliche Interesse bezüglich der Errichtung und des Betriebs von Windenergieanlagen regelmäßig vorausgesetzt.[1] Zum Teil knüpfen die Länder das öffentliche Interesse dabei an konkrete Standortgegebenheiten wie die Windhöffigkeit[2] oder das Vorliegen von Dichtezentren des Rotmilans.[3] Durch die Annahme des öffentlichen Interesse an der Windenergienutzung schaffen die Länder zumindest argumentative Bezugspunkte für die Prüfung im Einzelfall.

Ein angenommenes öffentliches Interesse muss im konkreten Fall andere Interessen „überwiegen“. Um dies zu entscheiden, findet eine Abwägung zwischen den öffentlichen Interessen, also der Versorgung der Bevölkerung mit erneuerbaren Energien und den Belangen des Artenschutzes am geplanten Standort statt (BVerwG, Urteil vom 09.07.2009 – 4 C 12/07, Rn. 13). In welchen Fällen das öffentliche Interesse überwiegt, lässt sich also nicht pauschal, losgelöst vom Standort, beantworten (Hentschel 2010, S. 569).

In mehreren Gerichtsurteilen wurde das Vorliegen des überwiegenden öffentlichen Interesses bisher abgelehnt.[4] Allerdings ist die Rechtsprechung zu diesem Thema nicht umfangreich. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich noch nicht zum überwiegenden öffentlichen Interesse im Sinne des § 45 Abs. 7 Nr. 5 BNatSchG geäußert. Im Rahmen anderer Entscheidungen zu Infrastrukturprojekten hat das Bundesverwaltungsgericht aber ausgeführt, dass das öffentliche Interesse umso stärker wiegt, wenn die Umsetzung des Vorhabens auch den gesetzlichen Zielvorstellungen dient (z. B. BVerwG, Urteil vom 23.03.2014 – 9 A 25/12, Rn. 74). Die Errichtung und der Betrieb von Windenergieanlagen entspricht ganz grundsätzlich der gesetzlichen Zielvorgabe, den Ausbau erneuerbarer Energien bundesweit voranzutreiben.

In Hamburg enthält das Hamburger Klimaschutzgesetz eine landesspezifische Zielvorgabe zum Ausbau der erneuerbaren Energien. Gemäß § 1 Abs. 1 des Hamburger Klimaschutzgesetzes soll die angestrebte Nutzenergie mit einem möglichst geringen spezifischen Verbrauch an nicht erneuerbarer Energie oder durch erneuerbare Energie unter weitgehender Vermeidung von Emissionen erbracht werden.

Diese Zielstellung bietet ebenfalls einen argumentativen Bezugspunkt für das Vorliegen eines öffentlichen Interesses. Allerdings muss die Abwägung immer unter den spezifischen Gegebenheiten des konkreten Standortes erfolgen.

Quellen

[1] MUKE BW et al. (2012, S. 38f.); Bayerische Staatsministerien (2016, S. 41f.); HMUELV und HMWVL (2012, S. 8f.) sowie 17; LUNG MV (2016, S. 8); VSW und LUWG (2012, S. 26); Richarz et al. (2013, S. 18); LANU SH (2008, S. 17).

[2] MUKE BW et al. (2012 S. 39); TLUG (2017b, S. 5).

[3] TLUG (2017a, S. 48); HMUELV und HMWVL (2012, S. 15); Bayerische Staatsministerien (2016, S. 19); MLR BW (2012, S.  14).

[4] OVG Münster, Urteil vom 13.12.2007 − 8 A 2810/04 Rn. 231; VG Halle, Urteil vom 19.08.2010 − 4 A 9/10, Rn. 56; VG Cottbus, Urteil vom 07.03.2013 − 4 K 6/10 Rn. 85.; OVG Münster, Urteil vom 13.12.2007 — 8 A 2810/04 Rn. 231).

Bayerische Staatsministerien (2016): BayWEE – Bayerischer Windenergieerlass. Hinweise zur Planung und Genehmigung von Windenergieanlagen. Windenergie-Erlass. UmweltWissen – Klima & Energie. München. 59 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 28.06.2018).

Erbs, G., Kohlhaas, M. (2018): Strafrechtliche Nebengesetze, Naturschutz, 218. Auflage 2018, beck-online.

HmbKliSchG – Hamburgisches Gesetz zum Schutz des Klimas durch Energieeinsparung (Hamburgisches Klimaschutzgesetz – HmbKliSchG) vom 25. Juni 1997.

Hentschel, A. (2010): Umweltschutz bei Errichtung und Betrieb von Windkraftanlagen. Forum Energierecht 16. Nomos Verlag, Baden-Baden. 656 S.

HMUELV, HMWVL (2012): Berücksichtigung der Naturschutzbelange bei der Planung und Genehmigung von Windkraftanlagen (WKA) in Hessen. Leitfaden. Wiesbaden. 76 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 02.07.2018).

LANU SH – Landesamt für Natur und Umwelt des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg.) (2008): Empfehlungen zur Berücksichtigung tierökologischer Belange bei Windenergieplanungen in Schleswig-Holstein. Flintbek. 93 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 04.07.2018).

LUNG MV – Landesamt für Umwelt, Naturschutz und Geologie, Mecklenburg-Vorpommern (2016): Artenschutzrechtliche Arbeits- und Beurteilungshilfe für die Errichtung und den Betrieb von Windenergieanlagen (AAB-WEA) Teil Vögel Stand: 01.08.2016. 74 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff 02.07.2018).

MLR BW – Ministerium für ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg (2015): Hinweise zu artenschutzrechtlichen Ausnahmen vom Tötungsverbot bei windenergieempfindlichen Vogelarten bei der Bauleitplanung und Genehmigung von Windenergieanlagen. Stuttgart. 22 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 28.06.2018).

MUKE BW − Ministerium für Umwelt Kima und Energiewirtschaft BW, MLR − Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz BW, MVI − Ministerium für Verkehr und Infrastruktur BW, MFW − Ministerium für Finanzen und Wirtschaft BW (2012): Windenergieerlass Baden-Württemberg. Gemeinsame Verwaltungsvorschrift vom 9. Mai 2012. Stuttgart. 51 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 04.07.2018).

Richarz, K., Hormann, M., Braunberger, C., Harbusch, C., Süßmilch, G., Caspari, S., Schneider, C., Monzel, M., Reith, C., Weyrath, U. (2013): Leitfaden zur Beachtung artenschutzrechtlicher Belange beim Ausbau der Windenergienutzung im Saarland, betreffend die besonders relevanten Artengruppen der Vögel und Fledermäuse. Staatliche Vogelschutzwarte, LUA, MUV Saarland. 112 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 03.07.2018).

TLUG – Thüringer Landesanstalt für Umwelt und Geologie (2017a): Avifaunistischer Fachbeitrag zur Genehmigung von Windenergieanlagen (WEA) in Thüringen. Seebach. 61 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 04.07.2018).

TLUG – Thüringer Landesanstalt für Umwelt und Geologie (2017b): Umsetzung des Artenschutzes bei der Zulassung von Windenergieanlagen, hier: Einführung des Avifaunistischen Fachbeitrags zur Genehmigung von Windenergieanlagen WEA in Thüringen (TLUG 2017). Erfurt. 6 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 04.07.2018).

VSW HE, RP, SL – Staatliche Vogelschutzwarte für Hessen Rheinland-Pfalz und Saarland, LUWG – Landesamt für Umwelt Wasserwirtschaft und Gewerbeaufsicht Rheinland-Pfalz (2012): Naturschutzfachlicher Rahmen zum Ausbau der Windenergienutzung in Rheinland-Pfalz. Artenschutz (Vögel, Fledermäuse) und Natura 2000-Gebiete. Frankfurt am Main, Mainz. 145 S. Link zum Dokument (letzter Zugriff: 03.07.2018).

Gerichtliche Entscheidungen

BVerwG, Urteil vom 23.03.2014 —9 A 25/12.

BVerwG, Urteil vom 09.07.2009 – 4 C 12/07.

OVG Münster, Urteil vom 13.12.2007 − 8 A 2810/04.

VG Cottbus, Urteil vom 07.03.2013 − 4 K 6/10.

VG Halle, Urteil vom 19.08.2010, − 4 A 9/10.